Über

Verena Billinger und Sebastian Schulz beschäftigen sich mit Gesellschaft, Öffentlichkeit und der choreographischen Konstitution des Menschen. Für die künstlerische Modellierung und Inszenierung fokussieren sie die Rolle des Körpers. Dessen Bewegungen verstehen sie als Überträger und Lebenszeichen. Mit konzeptuellen Setzungen unterbrechen und bearbeiten sie choreographische Konventionen, erarbeiten alternative Vorschläge und spielen diese durch. Dabei arbeiten sie konsequent multi- und interdisziplinär in verschiedenen Formen und Verformungen von Formen (Choreographien, Performances, Installationen, Collagen u.a.). Immer von ihrer Beschäftigung mit Tanz, Choreographie und deren Geschichte ausgehend, analysieren sie Identitäten und Differenzen, Spannungen, Konflikte, Emotionen und Affekte. Sie machen Körper und Körperlichkeiten sichtbar und bearbeiten den Raum dessen, wie Körper sichtbar werden können.

Biographie

Verena Billinger & Sebastian Schulz haben von 2004 bis 2012 Angewandte Theaterwissenschaft, Szenische Künste, Tanz, Choreographie und Performance in Gießen, Frankfurt und Hildesheim studiert und arbeiten seit dieser Zeit als Choreograph_innen zusammen. Ihre Arbeiten entstehen v.a. in Kooperation mit dem Forum Freies Theater Düsseldorf und dem Künstler*innenhaus Mousonturm Frankfurt am Main. Ihre Arbeit wird seit 2015 mehrjährig im Rahmen der Spitzenförderung Tanz und der Konzeptionsförderung des Landes NRW sowie seit 2017 ebenfalls mehrjährig von der Stadt Frankfurt am Main gefördert. Von 2021 bis 2023 wurde ihre Arbeit zusätzlich im Rahmen einer Bundesförderung von TANZPAKT RECONNECT gefördert. Ihre Produktionen waren bisher in Deutschland sowie in Bulgarien, Frankreich, Großbritannien, Irland, Lettland, Österreich, Schweden, der Schweiz, der Slowakei, Slowenien, Südkorea, Thailand und in den USA zu sehen. Ein Gastspiel in Malaysia musste wegen der Coronapandemie leider abgesagt werden.

Auszeichnungen

Verena Billinger & Sebastian Schulz erhielten 2014 den Förderpreis für junge Künstlerinnen und Künstler des Landes Nordrhein-Westfalen. 2015 wurden sie vom internationalen Fachmagazin tanz als „Hoffnungsträger für den Tanz“ ausgezeichnet. Ihre Performance Romantic Afternoon * wurde beim Favoriten Festival 2012 in Dortmund prämiert. 2016 war ihre Bühnenproduktion Violent Event ˟ zur Tanzplattform Deutschland eingeladen. 2015, 2017 und 2021 wurden sie für den Förderpreis der Landeshauptstadt Düsseldorf vorgeschlagen, während 2016 und 2017 verschiedene Tänzer_innen (Jungyun Bae, Frank Koenen, Judith Wilhelm) für Auftritte in ihren Arbeiten für diese Auszeichnung nominiert wurden. 2021 wurde ihr Tanzfilm untitled (mirror) beim Greensboro Dance Film Festival in den USA prämiert und 2022 wurde ihr Tanzfilm Picknick bei den California Music Video & Film Awards im Bereich „Best movement (choreography)“ ausgezeichnet.

Presse-/Textauszüge

„Jenes Raum-Geben, dieses Luft- und Spiel-Lassen – dieses espacement – ist vielleicht die wichtigste Geste der choreographischen Arbeit von Billinger & Schulz.” Jörn Etzold, Kritik und Klage. Loraux, Scholem, Billinger & Schulz

„In dieser schönen Zone, die nicht grau, sondern bunt ist, siedeln Billinger & Schulz alle ihre Performances an. (…) ‚Wir betreiben eine Weiterführung der Performancekunst mit choreografischen Mitteln‘, sagt Schulz, ‚komplexer arrangiert und mit weniger Glauben an Unmittelbarkeit und Echtheit‘. Diesen Glauben drehen sie immer wieder durch ihren fingerspitzengeführten Fleischkörperwolf, mit Mitteln der Wiederholung, Variation, Verschiebung. (…) Intellektuelle Bezüge zu Tanztheorie und -geschichte fließen in die Arbeiten mit ein, werden jedoch nie eitel oder pädagogisch ausgestellt. Humor ist den Künstlern nicht fremd. Schon im Interview, in dem sie sich unangestrengt die Worte wie gute Freunde teilen, lachen sie gern, kichern verlegen etwa über ihre Feststellung, ‚wir sind ja eher schüchtern‘. Von Weitem besehen, wirken sie auch so; doch ihre Stücke beeindrucken durch Bestimmtheit.“ Melanie Suchy, tanz 03/2016

„Erst küssten sie, dann schlugen sie – und beides taten sie ganz ohne Gefühl. Zärtlichkeit ohne Liebe, Gewalt ohne Hass. Das in Düsseldorf ansässige Choreografen–Paar Billinger & Schulz darf man derzeit getrost als Experten für motivations- und moralfreie Körper–Aktionen betrachten. (…) Auf ihrer Bühne allerdings wird schon mal so erschöpfend gebusselt, gewürgt, geprügelt und gefoltert, dass man bald begreift: Höflichkeit ist die neue Provokation. (…) Der alte, von der Tanzsparte traditionell und notwendigerweise verleugnete Leib–Seele–Dualismus – hier wird er zum radikal–komischen Konzept. Billinger & Schulz sind eben profunde Querdenker und auf leise Weise widerspenstig. Der Körper sei für sie ein «Überträger und Lebenszeichen», behaupten sie. Das klingt ein bisschen nach Krankheit, signalisiert aber auch, dass sie mit dem Chiffren-Ballast des Körpers noch längst nicht fertig sind.“ Nicole Strecker, Jahrbuch tanz 2015

„Überhaupt scheinen Verena Billinger und Sebastian Schulz in dieser Ausstellung die Frage aufzuwerfen, was überhaupt als natürliche und was als artifizielle Bewegung, was als ideale Körpervorstellung und reale Verkörperung geltend gemacht werden kann und richten den Fokus der Betrachtung dabei stets auf die Ambivalenz zwischen diesen Kategorien. So machen sie in der Arbeit „Übermalungen“ deutlich, dass der Körper nicht nur durch Bewegung zu Gestalt findet, sondern genauso stets ein Bild benötigt, um letztlich Form werden zu können. Dabei ist das Bild, was man von sich selbst hat, also wie sich der eigene bewegte Körper anfühlt, ebenso ausschlaggebend, wie das Bild von außen, also so wie andere den Körper wahrnehmen. Der Körper, so legt diese Arbeit nahe, ist niemals natürlich – im Sinne von bereits gegeben – sondern muss erst gemacht und hergestellt werden, was ohne die Aneignung einer fremden Perspektive nicht möglich ist. Im Bild findet der Körper eine Art Artikulation zwischen inneren und äußeren Kräften, was auch durch die Eingriffe, die Verfremdungen, die die Choreographen an den gefundenen Bilder vornehmen, einen Ausdruck findet.“ Irina Raskins, Einführung zur Vernissage von REWORK: Ausstellung (10/2016)

„Dieses Du-selbst-Sein schwingt in ihren Theatertanzperformances, oder wie immer man sie nennt, im Grunde ständig mit: als ein feinfühlig gestalteter Bezug zur Wirklichkeit, zum Menschsein in dieser seltsamen Welt. Es geht ums genaue Hinsehen auf das Eigene in Bezug auf das Andere, bei dem durchaus auch Komisches zum Vorschein kommt. In „Romantic Afternoon *“ für sechs Performer inszenierten Billinger/Schulz Küsse, einen nach dem anderen und auf alle möglichen Arten. Die diversen Relationen zweier Körper und Köpfe und Münder zueinander luden sich im Betrachter mit Geschichte und Emotionen auf. In „First Life – ein Melodram“ breiteten sie die Relation zwischen ihnen beiden auf der Bühne aus als ein unaufgeregtes Duett über Möglichkeiten. Welche der Aussagen über ihr Zusammensein, über Zeiten, Dauer, Orte und Tiervergleiche nun stimmten oder nicht, spielte nur insofern eine Rolle, als sie die Zuschauer in ein Spiel mit Muster mitnahmen, ein gedankliches Folgen, Wenden, Hüpfen, Schwanken. Für „Kummerkasten Menschenstadt“ befragten die beiden Dutzende von Menschen in Düsseldorf und Frankfurt zu Stadt, Familie, Geld, Glauben, Liebe und gaben die gesammelten Stimmen der im besten Sinne „Dahergelaufenen“ an fünf Darsteller ab. Die waren dann sie selbst und doch auch etwas anderes, etwas Gegenwärtiges und etwas Vergangenes, Vorbeigegangenes. (…) Für die Theaterszene in Nordrhein-Westfalen sind sie ein Gewinn, eine große Hoffnung.“ Begründung der Jury des Förderpreises für junge Künstlerinnen und Künstler Nordrhein-Westfalen

„Die Arbeiten von Verena Billinger und Sebastian Schulz zeichnen sich durch eine genaue Beschäftigung mit verschiedenen Bewegungsformen und deren medialen Bedingungen aus. Aus konkreten Fragestellungen und Beobachtungen heraus untersuchen sie Bewegung als kontextspezifisch, die sich gerade deshalb gegen jede Form der Beliebigkeit sperrt. In dem Stück „computerised movement“ waren es die leerlaufenden Bewegungen von Avataren in Computerspielen, die als Grundlage ihrer Auseinandersetzung dienten. Diese merkwürdig vertrauten und unheimlich fremdem Figuren, die nie still standen, irrten auf einer durch starkes Licht in mehrere Flächen unterteilte Bühne herum, prallten gegeneinander und von den Wänden ab und stellten so eine permanente Aufforderung an die Zuschauer dar, mit ihnen zu spielen.
Egal ob es die Bewegungen von Computerspielen sind oder ob es wie in „ROMANTIC AFTERNOON *“ die Frage nach der Privatheit eines öffentlichen Kusses ist, in jedem Fall geht die mediale Spezifik von Bewegung bei Billinger und Schulz einher mit einem starken Bewusstsein für das Theater. In ihrem jüngsten Stück „First Life – ein Melodram“, spielen Billinger und Schulz ein prototypisches Liebespaar, das mit den Formen und Masken des Theaters spielt. In einem geschickt verzahnten persönlich anmutenden Text, den sie vom Blatt lesen und der die Zuschauer aber über den tatsächlichen Status ihrer Beziehung im Unklaren lässt, denken sie über den Stellenwert von Beziehungen nach, über Möglichkeiten, diese zu leben und Gründe, sie zu beenden. Auch hier übernimmt der Tanz die dramaturgisch begründete Rolle als melodramatischer Tanz vom Ende einer Beziehung, die auf der Bühne hoffentlich noch eine Weile andauert.“ Gerald Siegmund, Publikation zur Tanzplattform Deutschland 2014